Die Idee zu folgender Kurzgeschichte entstand im November 2021 beim Warmschreiben in der Schreibgruppe. Der Schreibimpuls war folgender Satz: „Tage und Wochen vergingen, der Herbst kam„.
Tage und Wochen vergingen, der Herbst kam. Die Blätter fielen kunterbunt auf große Haufen, durch die die Kinder jubelnd liefen. Sehr zum Ärger von Mathilda Großkreuz.
Sie bewohnte eine Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die Fassaden, einst glatt verputzt in strahlendem Weiß, waren mit der Zeit grau und rissig geworden. Wenn sie sich morgens im Spiegel sah, kam sie sich genau so vor. Grau und rissig.
Jeden Morgen im Herbst ging sie auf ihren Stock gestützt zum Gehweg, der vor dem schmiedeeisernen Zaun verlief und fegte die bunten Blätter zusammen, die in der Nacht vom Baum geregnet waren. Es gehört sich, sein Heim sauber zu halten, dachte sie. Mathilda war immer wieder erstaunt zu sehen, dass Eltern ihre Kinder nicht im Griff hatten und sie einfach durch die in mühevoller Arbeit zusammengetragenen Blätterhaufen toben ließen.
Sie sah dem Treiben mit verkniffenen Augen zu, wenn sie nach getaner Arbeit in der Villa im Ohrensessel saß, mit Blick aus dem großen Fenster, das zur Straße zeigte, eine Tasse Tee und Gebäck neben sich auf dem antiken Beistelltisch.
So war es auch an diesem Montag im Herbst, einem strahlend blauen Tag mit oktoberwarmer Sonne. Plötzlich hörte sie einen Schrei.
Mathilda, die gerade die Dampfschwaden über ihrem Tee wegpustete, schaute auf. Aus dem Fenster sah sie ein kleines Knäuel Mensch, das mit beiden Händen Blätter in die Luft warf. Der Laubhaufen war bereits breit verteilt.
Neugierig hievte sie sich aus dem Sessel und trat näher ans Fenster. Was macht die kleine Kröte? Sie erkannte ein Mädchen, das immer wieder Blätter in die Luft warf.
Das darf doch wohl nicht wahr sein! Mathilda nahm ihren Stock und schlurfte zur Tür. Stufe für Stufe mühte sie sich die Treppe hinab.
Als sie am Tor zur Straße ankam, hörte sie ein leises Weinen. Sie näherte sich langsam dem Mädchen und versuchte zu erkennen, was passiert war.
Vor ihr suchte das Mädchen auf Hände und Knie gestützt zwischen den Blättern. „Mama Knick-Knack“, schluchzte sie.
Mathilda räusperte sich. „Was suchst Du da?“ Ihre Stimme krächzte vor Alter.
Das Mädchen schrak auf. Mathilda sah in große braune Augen, dicke Locken umrahmten ein pausbäckiges Gesicht, auf dem Tränen glitzernde Bahnen hinterlassen hatten.
„Mama Knick-Knack“, sagte das Mädchen. „Ich habe Mama Knick-Knack verloren!“
„Wer ist Mama Knick-Knack?“, krächzte Mathilda.
Das Mädchen fing wieder an, zwischen den Blättern zu wühlen. „Mein Spielzeug“, sagte sie. „Mein Lieblingsspielzeug.“
Mathilda stand unschlüssig da. Sie betrachtete ihr Tagewerk, den Blätterhaufen. Das Mädchen hatte ihn völlig durcheinander gewirbelt.
Mit ihrem Stock stocherte sie zwischen den Blättern. „Wie sieht Mama Knick-Knack denn aus?“
Das Mädchen wühlte weiter zwischen den Blättern. „Ein Frosch. Macht knick-knack.“ Ohne ihre Suche zu unterbrechen hielt sie eine Hand hoch und zeigte mit Daumen und Zeigefinger. „So groß.“ Sie schniefte.
„Ein Knackfrosch!“ Mathildas Augen leuchteten bei der Erinnerung.
„Mama Knick-Knack“, korrigierte sie das Mädchen.
„Welche Farbe hat denn Mama Knick-Knack?“ Mathilda kannte rote, gelbe, grüne und braune Knackspielzeuge. Ihre Kinder hatten mit ihnen gespielt.
„Gelb-grün.“
Mathilda sah auf den verwüsteten Blätterhaufen. Das würde wie eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen sein.
Sie drehte sich um und schlurfte zurück durch das schmiedeeiserne Tor. Vor einer kleinen Gartenlaube machte sie Halt. Die Tür quietschte, als sie sie öffnete. Mathilda machte Licht und sah sich um. Sie suchte eine kleine Dose. Sie wusste noch genau, wie sie aussah. Und tatsächlich, in einer Schublade fand sie die Blechdose mit dem bunt bemalten Deckel.
Sie schüttelte sie und hörte ein blechernes Klappern. Als sie den Deckel öffnete, blickte sie auf die ehemaligen Knackspielzeuge ihrer Kinder.
Mit der Dose in der Hand schlurfte sie zurück zum Mädchen, das die Suche aufgegeben hatte. Teilnahmslos saß es zwischen den bunten Blättern. Tränen liefen lautlos über ihr Gesicht.
Mathilda räusperte sich. „Es tut weh, etwas zu verlieren, das man lieb hat.“
Das Mädchen sah auf.
„Ich weiß, es kann kein Ersatz sein. Aber vielleicht möchtest du dir doch eines aussuchen?“ Mathilda hielt dem Mädchen die Blechdose entgegen.
Zögernd nahm es die Dose entgegen und öffnete sie. Ihre Augen wurden groß und ihr Mund formte ein stummes „Oh“, als sie die Knackspielzeuge sah.
„Sie gehörten meinen Kindern“, sagte Mathilda. „Sie brauchen sie nicht mehr. Du kannst dir ein Spielzeug aussuchen, wenn Du willst.“
Das Mädchen schaute ungläubig auf und Mathilda nickte zur Bestätigung. Vorsichtig nahm es ein Spielzeug nach dem anderen aus der Dose und betrachtete es. Einen roten Marienkäfer knick-knackte sie und lächelte Mathilda an.
„Darf ich diesen haben?“
„Ja, sicherlich.“
Das Mädchen gab Mathilda die Dose zurück. „Danke.“
„Welchen Namen wirst du ihm geben?“, fragte Mathilda.
„Wie heisst Du denn?“
„Ich bin Oma Mathilda.“
„Dann ist das hier Oma Knick-Knack“, sagte das Mädchen, hielt mit leuchtenden Augen den Blechmarienkäfer in die Höhe und knick-knackte. Dann drehte sie sich um und ging die Straße hinunter.
Mathilda hörte das Knick-Knack immer leiser werden. „Warte – wie heisst Du denn?“ Doch das Mädchen hörte die Frage nicht, ging in die Seitenstraße und war verschwunden.
Mathilda schlurfte zurück zur Villa. Im warmen Wohnzimmer ging sie zum Kamin, auf dem die Bilder ihrer Kinder standen. Es waren Schwarz-Weiß-Fotos, vor Alter ganz gelb, obwohl sie hinter Glasrahmen steckten. Sie betrachtete die Knackspielzeuge und holte einen grünen Frosch hinaus. In Gedanken knick-knackte sie ihn und sah in ihrer Erinnerung die kleine Hand von Marlene, die mit dem Frosch spielte. Sie legte den Blechfrosch auf den Kamin vor ihr Foto. Dann holte sie ein braunes Krokodil aus der Dose. Damit hatte Paul immer gespielt. Sie strich über das kleine Blechspielzeug und legte es vor das Foto ihres Sohnes.Sorgfältig nahm Mathilda die restlichen Blechspielzeuge aus der Dose und legte sie auf den Beistelltisch neben ihren Ohrensessel.
Es tut weh, etwas zu verlieren, das man lieb hat. Sie dachte an die Zeit, als Marlene und Paul noch bei ihr waren. Sie hörte Knick-Knacken, helle Kinderstimmen und Lachen. In der Ferne spürte sie die dunkle Wolke der Trauer, die sie damals verschlungen hatte. Die Zeit hatte schließlich auch sie geheilt, doch es waren Narben auf ihrer Seele zurück geblieben.
Mathilda war froh, das Mädchen im Laubhaufen getroffen zu haben.
Am nächsten Morgen stieg sie wieder die Treppe hinab zum Gehsteig. Neue Blätter waren von den Bäumen herab geregnet und raschelten im Wind. Wie jeden Morgen, fegte Mathildas sie zusammen. Doch diesmal hielt sie Ausschau nach einem kleinen, gelb-grünen Knick-Knack-Frosch.
Nach einer Weile machte sie eine Pause und betrachtete ihr Werk. Anders als sonst, hatte sie keinen Haufen zusammen gefegt. Bei ihrer Suche hatte sie die Blätter über den ganzen Gehweg verstreut. Den Knick-knack-Forsch hatte sie nicht gefunden.
Sie stützte sich auf den Besen. Was hatte es für einen Sinn, Blätter zusammen zu fegen, die am nächsten Tag sowieso wieder auf dem Boden verteilt waren?
Zwei kleine Kinder gingen mit raschelnden Schritten an ihr vorbei, die Schulranzen auf den Rücken.
Sie schaute ihnen nach. Dann begann sie, die Blätter zusammen zu fegen. Das wird ein richtig schöner Haufen, dachte sie. Nicht um Ordnung zu schaffen. Sondern um das glockenhelle Kinderlachen zu hören, wenn kleine Füße und Hände durch den Haufen tobten.
Und vielleicht – ganz vielleicht – würde sie das kleine Mädchen wiedersehen.